Friede – nicht wie die Welt ihn gibt
Der tiefe Sinn des liturgischen Friedensgrußes
von Thomas Schumacher
Die Bitte um Teilhabe am Frieden des Herrn, dessen Zusage an die eucharistische Versammlung sowie der mögliche wechselseitige Austausch einer Geste des Friedens gehören heute zu jenen Riten innerhalb der Feier der Eucharistie, die dem Mahl direkt vorausgehen. Um den Friedensritus liturgisch angemessen zu begehen, ist es erforderlich, seine Bedeutung zu kennen. Welches also ist der Sinn dieses Friedensritus, der in wechselnder Gestalt bis in die frühchristliche Zeit belegt ist?
Der Friede des Herrn
- In einigen der Ostererzählungen wird die Selbstbekundung des auferstandenen Herrn an die Seinen mit den Worten „Der Friede sei mit euch“ eröffnet – so z.B. Lk 24,36: Im Unterschied zur vorausgehenden Emmauserzählung reagieren die Jünger mit Furcht und Schrecken (vgl. den ursprünglichen Markus-Schluss Mk 16,8; die weiteren Verse 9-19 sind späteren Ursprungs). Sie müssen erst begreifen dass dieser Auferstandene wirklich Jesus selbst ist, mit dem sie zuvor in enger Gemeinschaft gelebt und den sie während seines Lebens, Wirkens und Lehrens begleitet haben. Jesus erscheint den Seinen nicht als Geist, nicht in einer mysteriösen Vision, sondern er manifestiert sich ihnen leibhaft-konkret (VV 39-43).
Die Grußformel „Friede sei mit euch“ markiert einen Übergang: Einerseits handelt es sich bei diesen Worten um eine zur Zeit Jesu in Israel gebräuchliche Grußformel. Andererseits ist es eine Wirklichkeit gänzlich neuen Typs, nämlich die Auferstehungsgestalt, die mit diesen Worten in die Welt der Jünger einbricht und einen Kontrast zur Furcht der Jünger markiert.
- In ähnlicher Weise findet sich die Grußformel des Auferstandenen bei Johannes gleich mehrfach (Joh 20,19.21.26). Eine weiterführende Interpretation dieses Friedensgrußes bietet Johannes im Rahmen der Abschiedsreden. Jesus spricht hier vom Ziel seiner Sendung, „damit ihr in mir Frieden habt“ (Joh 16,33). Noch ausdrücklicher klingt Joh 14,27 im Kontext der Verheißung des Geistes: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch.“ Damit ist angezeigt, worum es geht. Die neue Wirklichkeit des Mit-Seins mit Jesus, dem auferstandenen Herrn, wird als Zustand des „Friedens“ dargestellt. Dieser Friede ist ein gänzlich anderer als der Friede dieser Welt. Es ist ein Friede, der in der endgültigen Vollendung des Sohnes in der Herrlichkeit des Vaters gründet und insofern ewig währt. Die Teilhabe der Jünger an diesem Frieden ist die Gabe, die der Auferstandene ihnen schenkt, indem er ihnen Anteil gibt an seiner eigenen Vollendung beim Vater.
- In diesem österlichen Verständnis des Friedens bei Joh erscheint der Schalom-Begriff aus der Tradition Israels aufgenommen, überhöht und christologisch interpretiert. In den Schriften des Alten Testaments begegnet „Schalom“ – wie in allen semitischen Sprachen bis hin zum heutigen Arabisch (salām) – in einem breiten Bedeutungsspektrum von der Grußformel bis hin zu „heil sein“ in einem umfassenden, elementaren Sinn: Unversehrtsein, Wohlergehen, Heil, Friede, Ruhe, Sicherheit.
- Abraham geht im Schalom zu seinen Vätern ein (Gen 15,15). Zwischen Josefs Brüdern und diesem ist der Schalom gestört (Gen 37,4), bevor er in Ägypten wiederhergestellt wird. Eine weitere, tieferreichende, religiöse Dimension erhält der Begriff „Schalom“, indem, im Kontext der Vorstellung von JHWH als dem König und Schöpfer, der Schalom als in JHWH begründet und durch diesen gegeben verstanden wird. In diesem Wortsinn steht Schalom bei Deuterojesaja und in den anderen prophetischen Büchern der exilischen und nachexilischen Zeit: „Ich mache Schalom und Unheil“ (Jes 45,7). Wenn Israel den Bund JHWHs und seine Gebote beachtet, dann wird sein Schalom sein wie die Wogen des Meeres (Jes 48,18). Das Gegenteil bedeutet Unheil: „Ich habe meinen Schalom weggenommen von diesem Volk“ (Jer 16,5).
- Die eschatologische Dimension des Schalom erscheint im Kontext der Verheißung des neuen Jerusalem auf: „Meine Huld wird nie von dir weichen, und der Bund meines Schalom nicht wanken“ (Jes 54,10b). Der Bund bedeutet „Leben und Schalom“ (Mal 2,5). Mit Blick auf die Erwartung des Messias heißt es: „Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Schalom ankündigt [...] und sagt: Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). „Siehe, dein König kommt zu dir [...] Er verkündet den Völkern Schalom“ (Sach 9,9-10). Der Schalom wird zum Merkmal der eschatologisch aufgerichteten Gottesherrschaft.
- Mit Blick auf diese messianisch-eschatologische Tiefenbedeutung nehmen die Schriften des NT den Schalom-Begriff auf und beziehen ihn auf den auferstandenen, erhöhten Herrn. In diesem Vollsinn findet sich „Schalom“ im Gruß des Auferstandenen an die Seinen. In diesem Vollsinn, die Messiaserwartung Israels aufgreifend (Lk 2,11.26), spricht Lukas vom Schalom auf Erden (Lk 2,14), der nun gekommen ist. In diesem Vollsinn ermuntert Paulus die Epheser, für das „Evangelium vom Schalom“ einzutreten und zu kämpfen (Eph 6,15). Denn der Schalom ist offenbar geworden als der Friede des Herrn, an welchem teilzuhaben all jenen eröffnet ist, die zu Jesus, dem Christus, gehören.
Der Friedensritus im Wandel der Zeit
- Ausgehend vom österlichen Gruß des Auferstandenen und der endgültig-neuen Bedeutung des Schalom von Jesus Christus her hat sich bereits in frühchristlicher Zeit ein entsprechendes rituelles Element in der Feier der Eucharistie etabliert. Schon Justin (ca. 100-165) bezeugt die Praxis des Friedenskusses im Anschluss an das Allgemeine Gebet: „Haben wir die Gebete beendet, begrüßen wir einander durch einen Kuss“ (I. Apol 65,2). Tertullian (ca. 150-230) spricht diesbezüglich vom Friendenskuss als einem „signaculum orationis“, einer Besiegelung des Allgemeinen Gebets. Da die Katechumenen zum Ende der Liturgie des Wortes aus der Versammlung verabschiedet werden, nehmen sie erstmals als Neugetaufte, nun der vollen Gemeinschaft der Kirche eingegliedert, am Allgemeinen Gebet und am Friedenskuss teil. Im Friedenskuss kommt die Intimität der eucharistischen Gemeinschaft zum Ausdruck. Aufgrund getrennter Plätze für Männer und Frauen ergibt sich, dass stets nur Männer untereinander und Frauen untereinander den Friedenskuss tauschen.
- Das vorherrschende Verständnis vom Friedenskuss als Ausdruck der Besiegelung der Gebetsgemeinschaft führt dazu, dass im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Liturgie im lateinischen Westen des Reiches im 4. Jhd. der Friedenskuss nunmehr erst nach Abschluss des Hochgebets getauscht wird. Im griechischsprachigen Osten hingegen bleibt der liturgische Ort des Friedenskusses unverändert. Dort allerdings verschiebt sich das Verständnis vom Friedenskuss, der verstärkt als Übergang von der Liturgie des Wortes zur Eucharistischen Liturgie aufgefasst wird, eine stärkere Ausrichtung auf das eucharistische Mahl erhält und nun sinngemäß von Mt 5,23 her interpretiert wird: „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst [...]“.
- Auch im Westen ergibt sich eine Verschiebung in der Interpretation des Friedensgrußes. Da das Vater Unser im lateinischen Ritus gegen Ende des 6. Jhd. an das Hochgebet direkt angeschlossen wird, bleibt für den Friedensgruß eine Position zwischen Vater Unser und Brotbrechen. Die ersten Bitte des Vater Unser werden aufgrund ihres doxologischen Charakters als dem Hochgebet zugehörig empfunden, während Brotbitte und Vergebungsbitte auf das eucharistische Mahl vorauszudeuten scheinen. Der Friedensgruß gerät somit in den Kontext der Kommunion. Jene tauschen den Friedensgruß untereinander, die am eucharistischen Mahl teilhaben. Die liturgische Verbindung des Friedensgrußes mit der Kommunion recht so weit, dass er sogar außerhalb der Eucharistiefeier im Rahmen der Krankenkommunion begangen wird.
- Mit dem Rückgang der Kommnionhäufigkeit der Gläubigen im fränkisch-germanisch geprägten Mittelalter, der Konzentration der Liturgie auf den Klerus und einer am Paradigma des Gegenständlichen orientierten Wirklichkeitsauffassung verschiebt sich das Verständnis des Friedensgrußes weg vom Zeichen der eucharistischen Gemeinschaft hin zu einer gegebenen „Gabe“, die vom Altar als dem Ort des eucharistischen Opfers und der Transsubstantiation ausgeht. Für die Gläubigen (d.h. den nicht-Klerus) rückt anstelle der realen Teilhabe am eucharistischen Mahl die verehrende Anschauung (Augenkommunion, geistige Kommunion) in den Fokus.
- In der liturgischen Praxis schlägt sich das veränderte Verständnis darin nieder, dass der Friedensgruß seit dem 10./11. Jhd. erst nach einem vorausgehenden Friedensgebet des Priesters (seit dem 11. Jhd. setzt sich dafür Joh 14,27 durch) und einem Altarkuss, worin der Priester die Pax seinerseits empfängt, kaskadenartig weitergegeben wird. An die Stelle des Kuss-Gestus tritt nun eine (angedeutete) Umarmung des Nächststehenden, in manchen Ordenskonventen einschließlich Berührung der Wangen.
- Die seit dem 13. Jhd. von England her in Gebrauch kommenden Pax-Tafeln, konzentrieren schließlich gleichsam im Sinne eines Altarersatzes den Kuss auf sich; im Gegenzug erhält der Küssende die Gabe der Pax vom Gekreuzigten her, dessen Bildnis auf der Pax-Tafel dargestellt ist. Der wechselseitige Friedensgruß tritt hinter eine rein vertikal ausgerichtete Privatpraxis zurück. Übrig bleibt schließlich (im Anschluss an die Brotbrechung!) das Privatgebet des Priesters und die unter Ausbreitung der Hände (= stilisiert-angedeutete kollektive Umarmung) erfolgende Zusage „Pax vobis“, welche aus der vormaligen Einladung an die Versammlung, den Friedensgruß untereinander zu tauschen, nunmehr ohne Einladungscharakter und ohne Tausch übrig geblieben ist.
Form und Praxis heute
Die Liturgiereform nach dem II. Vatikanischen Konzil hat den Friedensritus ausgehend von der frühchristlichen Praxis erneuert. Er hat heute folgende dreiteilige Gestalt (vgl. GO 154):
- Im Anschluss an die das Vater Unser abschließende Doxologie spricht der Hauptzelebrant laut das Friedensgebet, das an Jesus Christus gerichtet ist (= Anredewechsel nach Hochgebet und Vater Unser) und aus einem anamnetischen und aus einem epikletischen Teil besteht. Auf die Anamnese „Herr Jesus Christus, du hast zu deinen Aposteln gesagt“ (mit jahreszeitlichen Varianten an Weihnachten, in der Österlichen Bußzeit, an Ostern und an Pfingsten, z.B. „Als Christus geboren wurde, verkündeten Engel den Frieden auf Erden“; „Am Ostertag trat Jesus in die Mitte seiner Jünger und sprach den Friedensgruß“) folgt die Epiklese „Deshalb bitten wir: Herr Jesus Christus [...] und schenke ihr [der Kirche] Einheit und Frieden.“
- Auf das Friedensgebet folgt unter Ausbreitung der Hände (= stilisiert-angedeutete kollektive Umarmung) die dialogisch angelegte Zusage des Friedens an die eucharistische Versammlung mit den Worten: „Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch – und mit deinem Geiste.“ Diese dialogische Zusage entspricht der bischöflichen Grußformel zu Beginn der Eucharistiefeier. Sie artikuliert die in der pneumatischen Gegenwart des Herrn verbürgte Teilhabe seiner Kirche an der eschatologischen Vollendung ihres in der Herrlichkeit des Vaters erhöhten Herrn Jesus Christus.
- Der wechselseitige Friedensgruß wird in der aktuellen Grundordnung als fakultativ eingestuft. Er wird durch die Einladung des Diakons (GO 181; 239; ansonsten des Hauptzelebranten) „Gebt euch ein Zeichen des Friedens“ eingeleitet. Auffallend ist die Vorgabe einer Einschränkung, die einem möglichen Auswuchs des Friedenszeichens in der Praxis vorbeugen soll: „Es ist aber angebracht, dass jeder nur mit den Nächststehenden auf schlichte Weise das Friedenszeichen austauscht“ (ebd.). Auch für den Hauptzelebranten ist eine Einschränkung des Friedensgrußes auf den liturgischen Dienst bzw. auf „einige wenige Gläubige“ vorgesehen. In jedem Fall aber soll er innerhalb des Altarraums verbleiben (GO 154).
- Der Friedensgruß stellt ein wechselseitiges Zeichen des Friedens dar. Die Gabe eines Friedenszeichens folgt daher dem Prinzip des Nächststehenden. Es gibt also keine Kaskade vom Altar her bzw. vom Hauptzelebranten her. GO 154 bestimmt: Alle bezeigen einander Frieden (vgl. GO 239).
Das Zeichen, unter dem der Friedensgruß erfolgt, kann entsprechend den Bräuchen der Völker durch die jeweiligen Bischofskonferenzen festgelegt werden (GO 82b). Konkret braucht dies keineswegs immer der Handschlag zu sein. Unter einender vertrauten Personen kann ein derartiges Zeichen auch in Umarmung oder Kuss bestehen (accolade, bisou bisou). Im Fall grassierender Infektionskrankheiten mag es sogar durchaus geboten erscheinen, auf einen direkten körperlichen Kontakt zu verzichten. So stellen auch das Zunicken oder ein Wort des Friedens (vgl. GO 154) durchaus vollwertige Möglichkeiten dar, die Liturgie zeichenhaft und lebendig zu vollziehen.
Ein Derivat dieses Textes ist erschienen in Gd 43 (2009) 185-187